Dortmund: Als die Neuen noch die Wache schrubben mussten
ots/Polizei Dortmund
Dortmund (ots) - Als Heinz-Werner Thiehsen und Jürgen Jaeger in den 1970er-Jahren bei der Polizei anfingen, mussten sie auch die Wache schrubben und mit Typenreiniger die Schreibmaschinen putzen. Jetzt steht der Ruhestand bevor. Ein Rückblick auf insgesamt 86 Jahre Einsatz - in der Nordstadt.
Die Kneipen rund um den Steinplatz trugen so klangvolle Namen wie "Feuerkugel", "Addis Pinte", "Bei Ernie", "Mutter Köhm", "Nordpol" oder "Schmuckkästchen". Wo heute das Dietrich-Keuning-Haus steht, arbeitete damals ein Schlachthof mit Gleisanschluss. Und am Monatsanfang feierten die Stahlarbeiter in ihren Stammkneipen den Lohntütenball.
Ende Oktober 2021 gehen die Polizeihauptkommissare und Bezirksdienstbeamten Heinz-Werner Thiehsen und Jürgen Jaeger in den Ruhestand. Ihnen zuzuhören, das bedeutet Kino im Kopf. Denn sie arbeiteten immer in der Nordstadt. Für die Nordstadt. Die Menschen dort sind ihnen ans Herz gewachsen. Nach drei Verlängerungen und insgesamt 45 Jahren bei der Polizei blickt der 63-jährige Heinz-Werner Thiehsen auf bewegte Zeiten zurück. Kollege Jürgen Jaeger (62) arbeitete 39 Jahre in diesem besonderen Revier.
Zwei Jahrzehnte Wach- und Wechseldienst. Dann zwei Jahrzehnte Bezirksdienst. Sie erlebten Armut hautnah und spürten über die Jahre den Respektverlust vor der Uniform. Sie hasteten im Streifenwagen von Einsatz zu Einsatz und erlebten die Geschichten von Rotlichtgrößen, die morgens in der Großmarktschänke versackten, nachmittags im Matrosenkostüm im Polizeigewahrsam der Andreaswache landeten und eines Tages "Bei Ernie" am Tresen starben.
Hier, in diesem harten - aber auch herzlichen - Arbeitermilieu fühlten sich die beiden Polizeibeamten wohl. Unvergessen die etlichen Einsätze mit der Militärpolizei der britischen Rheinarmee, die nach einer wilden Kneipenschlägerei die Soldaten von der Nordstadtwache abholte und in eine der Kasernen auf Dortmunder Stadtgebiet zurückbrachte.
Unvergessen die Kneipenschlägereien, bei denen es reichte, schweigend die damals grüne Dienstmütze aufzusetzen, um einen Streit zu schlichten, bei dem die Fäuste flogen. Unvergessen die beste Bockwurst Dortmunds, mit der man auch spät nachts noch bei Tombrink an der Burgtor-Brücke mit Genuss den Kalorienhaushalt auffüllen konnte.
"Das alles gibt es so nicht mehr", sagt Heinz-Werner Thiehsen im Rückblick auf die 45 Dienstjahre, in denen er bis zum Schluss immer auch viel Elend erlebte. Er hatte Einblicke in Familien, die ihre Kinder sich selbst und der Straße überließen. Er hörte aber auch Sätze, die ihn mit Stolz erfüllen: "Herr Thiehsen ... ich wollte mich bei Ihnen bedanken. Dafür, dass Sie mir mal den Kopf gewaschen haben. Nur so konnte ich lernen, mich gegen bestimmte Leute durchzusetzen. Und ich habe jetzt übrigens eine Lehrstelle ..."
2006 / 2007: Die Fußball-Weltmeisterschaft und das Sommermärchen sind vorbei. Die EU-Ost-Erweiterung beginnt. Die Armut bekommt neue Gesichter. Die heruntergekommenen Häuser, in denen Zuwanderer unter menschenunwürdigen Bedingungen wohnen müssen, erinnern an die Zeit, in der die Gastarbeiter für den Wohlstand schufteten: Alteingesessene Nordstädter zogen in die Neubauten der Trabantenstädte in Westerfilde und Scharnhorst. Jeder hatte ein eigenes Badezimmer.
Die Gastarbeiter zogen in die alten und verfallenen Nordstadt-Häuser mit Toilette im Hausflur. Dieser Armut begegnet die Polizei auch heute noch täglich.
Ebenso der Kriminalität. "Alkohol, Haschisch, Heroin, Kokain, Prostitution. Das hatten wir früher. Das haben wir heute", berichtet Jürgen Jaeger. Eins stellt er klar: "Das hier ist ganz gewiss keine No Go-Area. Immer wieder wird gesagt, dass wir nur mit viel Verstärkung in die Einsätze gehen können. Das stimmt einfach nicht."
Jürgen Jaeger weiß das ehrenamtliche Engagement vieler Nordstädter sehr zu schätzen. Sie lernte er in der Zeit als Bezirksdienstbeamter gut kennen. "Ohne diese Leute, ohne diese Kooperationen, ohne die Netzwerkarbeit würde hier nichts stattfinden", sagt er voller Respekt. Viele ältere Menschen kennt er von Gesprächen auf der Straße. Über alleinstehende Frauen im hohen Alter sagt der Polizeihauptkommissar: "Viele von ihnen sind einsam. Man spürt ihren Schmerz."
Den demografischen Wandel erfuhr er über die Jahre in einer Begegnungsstätte der Arbeiterwohlfahrt. Anfangs waren die Senioren-Sprechstunden des Bezirksdienstbeamten noch gut besucht. Jürgen Jaeger: "Dann wurden es immer weniger. Die Ehemänner starben und die Frauen kamen allein. Zunächst noch einmal im Monat. Dann nur noch einmal im Vierteljahr ..." - dann kam auch noch Corona.
Beiden Bezirksdienstbeamten lag immer die Verkehrserziehung am Herzen. Der Türöffner für die Polizei, um in Kindergärten und Schulen den ersten Kontakt zu Kindern und Familien aufzunehmen. Heinz-Werner Thiehsen über den lebenswichtigen Sinn dieser Arbeit: "Ich lag mal auf der Bornstraße mit einem überfahrenen Kind unter einem Lkw. Das Kind wurde 60 Meter mitgeschleift. Ich habe es versorgt, getröstet, mit ihm gesprochen. Bis der Krankenwagen kam. Diese Einsätze zeigen, wie wichtig die Unfallprävention ist."
Im Wach- und Wechseldienst gab es kaum Zeit für intensive Gespräche. Im Bezirksdienst hingegen gibt es zwischen 1500 Haftbefehlen pro Jahr immer noch genug Momente für intensive und gute Gespräche von Mensch zu Mensch. Dazu gehört auch die Begegnung mit der Seniorin, die sich nach einem Raubüberfall nicht ihren Optimismus nehmen lassen will. Und dazu gehört die aus einer Diktatur nach Deutschland geflüchtete Familie, die in ihrer ursprünglichen Heimat mit uniformierten Polizisten keine guten Erfahrungen gemacht hat - und in der Nordstadt die Bezirksdienstbeamten stolz um ein gemeinsames Foto bittet.
Würden Heinz-Werner Thiehsen und Jürgen Jaeger sich noch einmal für den Polizeiberuf entscheiden, wenn sie könnten? Sie zögern bei der Antwort, berichten über den Respektverlust und über Provokationen - um dann über einen "sehr interessanten Beruf mit vielen Perspektiven und großer Hilfsbereitschaft" zu berichten. Ein Beruf, bei dem nicht zu unterschätzen sei, dass er mental Einfluss auf einen Menschen habe. Heinz-Werner Thiehsen: "Als Polizist erlebt man viel Leid - und viel Schönes."
Für die Pensionäre gilt auf jeden Fall: Wenn wieder zur Polizei, dann aber in die Nordstadt. Jungen Kolleginnen und Kollegen raten sie zu einem "gesunden Misstrauen" im Einsatz. Die Kommunikation dürfe niemals "von oben herab" verlaufen. "Das geht nur auf Augenhöhe."
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