Innsbruck: „Unfruchtbarmachung“ im Nationalsozialismus

vonRedaktion International
JULI 02, 2024

Foto: TLA, Reichsstatthalter in Tirol und Vorarlberg, Dezernat IIIa1

Zwangssterilisierungen und Zwangskastrationen waren zwischen 1940 und 1945 im angeschlossenen Österreich legal – und wurden auch in Innsbruck durchgeführt. Von Ina Friedmann

Mit 1. Jänner 1940 wurde in der damaligen „Ostmark“ das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) eingeführt, das es dem NS-Staat erlaubte, tief in das Privatleben seiner BürgerInnen einzugreifen: Die Entscheidung, wer Kinder zeugen und bekommen konnte und sollte, war keine private mehr.

Angebliche und reale medizinische Zustandsbilder waren als „Erbkrankheiten“ ausschlaggebend für oder gegen eine Familiengründung. Das Urteil, ob eine solche erlaubt war, lag bei den eigens dafür eingerichteten Erbgesundheitsgerichten, die aus zwei Ärzten und einem Juristen bestanden und Amtsgerichten angegliedert wurden. In Innsbruck befand sich das Erbgesundheitsgericht in der Gaismair-Straße 1, wo heute unter anderem das Tiroler Landesarchiv untergebracht ist. Bevor es aber zu einer Gerichtsverhandlung über die „Unfruchtbarmachung“ kam, wurden die potenziell davon Betroffenen auf ihren Gesundheitszustand untersucht, üblicherweise am Gesundheitsamt. Die dort tätigen ÄrztInnen hatten entweder selbst im Rahmen eines Kontakts, etwa bei den verpflichtenden Ehetauglichkeits-Untersuchungen als Voraussetzung für die Heiratserlaubnis, den Verdacht auf eine „Erbkrankheit“ gehabt, oder ihnen war eine Anzeige nach dem GzVeN durch eine andere Behörde oder Privatperson zugeleitet worden.

Dimensionen

In Tirol und Vorarlberg, im Nationalsozialismus zum Gau zusammengefasst, wurden 1.054 Personen nachweislich nach dem GzVeN bei dem für sie zuständigen Gesundheitsamt angezeigt. Die Dunkelziffer ist jedoch wesentlich höher, da von den Gesundheitsämtern einiger Landräte – so hießen die Bezirkshauptmannschaften im Nationalsozialismus – keine Aktenbestände vorliegen.

Als „Erbkrankheiten“ galten nach dem Gesetz „angeborener Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „manisch-depressives Irresein“, „erbliche Fallsucht“, „erblicher Veitstanz“, „erbliche Blindheit“, „erbliche Taubheit“ und „schwere erbliche körperliche Missbildung“, zudem war auch die Suchtkrankheit „schwerer Alkoholismus“ als Begründung für eine Zwangssterilisierung angeführt. Mittels der Diagnose des „angeborenen Schwachsinns“ konnten auch Menschen, deren Lebensgestaltung als nicht der Norm entsprechend angesehen wurde, Zwangseingriffen unterworfen werden. Das betraf meist arme Menschen, ledige Mütter aus den Unterschichten und Personen, die als „asozial“ bezeichnet wurden.

Im Gaugebiet hatten sich 477 Menschen vor einem der beiden Erbgesundheitsgerichte der staatlichen Frage nach ihrer „Fortpflanzungswürdigkeit“ zu stellen. 309 Verfahren wurden in Innsbruck geführt, 168 in Feldkirch. Es kam zu 361 Zwangseingriffen, die 232 Mal TirolerInnen betrafen und 129 Mal VorarlbergerInnen. 164 Mal wurde dies mit „angeborenem Schwachsinn“ begründet – die mit Abstand häufigste Diagnose.

„Freiwillige Entmannungen“

Ebenfalls mit dem GzVeN legalisiert, richtete sich diese real keineswegs freiwillige Zwangsmaßnahme vor allem gegen homosexuelle Männer. Man glaubte, die Kastration, also die operative Entfernung der Hoden, würde die Betroffenen „von einem entarteten Geschlechtstrieb“ befreien. Ein Erbgesundheits-Gerichtsverfahren war dazu nicht notwendig, vielmehr genügte es, wenn ein Amtsarzt/eine Amtsärztin die angebliche Notwendigkeit des Eingriffs bestätigte.

Bekannt sind bisher acht Männer aus dem Gaugebiet, die sich einer solchen Operati on unterziehen mussten. Ihre Geschichte wird als Teil der Verfolgung von homosexuellen Menschen in Tirol und Vorarlberg in einem neuen Forschungsprojekt weiter untersucht. Da Homosexualität auch vor 1938 und nach 1945 einen Straftatbestand darstellte, endete die Verfolgung nicht mit Kriegsende und es gibt bis heute kaum autobiographische Berichte von Betroffenen.

Nach 1945

Das GzVeN wurde mit April 1945 als NS-Gesetz außer Kraft gesetzt, doch es dau erte 60 Jahre, bis die Betroffenen als Verfolgte des NS-Regimes 2005 im Opferfürsorgegesetz Berücksichtigung fanden. 1995 waren sie vom Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus anerkannt worden. Die Beteiligung von ÄrztInnen an den Zwangseingriffen stellte kein NS-Verbrechen dar und wurde daher nicht juristisch geahndet.

Das Stigma der „Erbkrankheit“, der Anders- oder „Abartigkeit“ blieb also bestehen. Aufmerksamkeiten für körperliche und/oder emotionale Folgen von Zwangseingriffen gab es nicht.




Quelle: Stadt Innsbruck

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